Vorschaubilder

Sie befinden sich auf der Archivseite. Zur Hauptseite

Neugestaltung des Schulhofs

Steine des Anstoßes: Das Sommerklassenzimmer – ästhetische Betrachtungen


 Aufmerksamkeit entsteht da, wo Dinge unvermutet im Wege stehen, wenn Gewohnheiten gestört werden und eine Beurteilung, eine Stellungnahme, eine Sinngebung begründet sein soll. Seit dem Frühjahr 2014 haben die Klassenzimmer an der Waldstraße eine Erweiterung erfahren. Hinzu gekommen ist ein offen gestalteter Raum im Freien. Dieser wurde auf einem Teil des Pausenhofes aus quaderförmigen Natursteinen in Form eines Kreises unter einem der größeren Bäume errichtet. Als ich die Anlage nach den Osterferien zum ersten Mal sah, war ich spontan beeindruckt: einfach, brauchbar und vor allem – schön. Wie oft haben mich die Schüler an sonnigen Sommertagen gebeten, zum Unterrichten nach draußen zu gehen. Genauso oft haben geeignete Sitzmöglichkeiten für eine größere Anzahl von Schülern gefehlt, weil die wenigen Holzbänke verwittert und unbenutzbar waren.

Foto: Jona Kriese, 6d

Das helle, ocker-gelbe Material fügt sich relativ unauffällig in die Umgebung des denkmalgeschützten Schulgebäudes ein und wirkt selbst im Regen oder im Schatten noch freundlich und warm. Bei genauem Hinsehen lassen sich im wechselnden Licht sogar unerwartet viele Farbtöne entdecken. Die Reste der Bohrlöcher mögen den einen stören, dem anderen interessant erscheinen oder als eine Art Ornament gefallen. Die Spuren einer Technik, die den Menschen die schwere Steinbrucharbeit erleichtert, lassen weitere Bezüge finden. Sie erinnern daran, dass nicht nur das Naturmaterial das Gebilde stabil und wertvoll macht, sondern auch die damit verbundene menschliche Arbeitskraft.

Die abstrakten Skulpturen des Bildhauers Ulrich Rückriem haben mit dem gezielten Einsatz ganz ähnlicher Spuren Aufmerksamkeit erweckt und die Kunstgeschichte geprägt. Damit will ich den Steinkreis nicht gleich in den Stand eines Kunstwerks erheben. Der Steinbrucharbeiter oder der Landschaftsgärtner ist genau so wenig ein Künstler, wenn er solche Steine bearbeitet oder verwendet, wie jemand ein Automechaniker wird, der an seinem Auto die Scheibenwischer repariert; so jedenfalls argumentieren wirkliche Künstler. Ein Gegenstand muss auch gar kein Kunstwerk sein, damit man ihn einer ästhetischen Betrachtung unterziehen kann. Aisthesis ist das alte griechische Wort für ‚sinnliche Wahrnehmung’ und hat zunächst weniger als gewöhnlich gedacht mit Schönheit zu tun. Diese wird erst historisch viel später zum Kriterium für ästhetische Qualität. Im Prinzip kann jeder Gegenstand, selbst ein Blatt Papier mit mathematischen Formeln, hinsichtlich seiner ‚ästhetischen’, seiner ‚wahrnehmbaren’ Eigenschaften betrachtet werden. In diesem Sinne wäre der alltagssprachliche Gebrauch des Wortes ‚schön’ vom fachsprachlichen Gebrauch zu unterscheiden. Daher erlaube ich mir, Immanuel Kant zu zitieren: „Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung, also nicht vermittelst der Empfindung, gefällt. Hieraus folgt von selbst, dass es ohne alles Interesse oder Zweckbindung gefallen müsse.“ Nun soll der Steinkreis aber praktischen Zwecken dienen. Würde Kant ihn deswegen gar nicht als „schön“, allenfalls als „angenehm“ bezeichnen?

Die quaderförmigen Blöcke sind in lockerer, doppelter Reihung, mit etwas Abstand, doch relativ nah nebeneinander so auf den ebenen Grund verteilt, dass eine Lücke offen bleibt. Während die kleineren Steine in ihrer Anordnung eher die Horizontale, die Welt des Handelns betonen, wurde der größere Stein in der Mitte der Öffnung wie ein Rednerpult vertikal aufgerichtet. Zusammen mit dem Baum gegenüber entsteht eine imaginäre Linie, die das Ganze in zwei Hälften teilt. Die Vertikale stellt eine Vermittlung zwischen Oben und Unten dar, die Welt des Denkens wird auf die Welt des Handelns bezogen oder umgekehrt. Im Steinkreis hier ist somit das hierarchische Prinzip des Über- bzw. Unterordnens mit dem des gleichrangigen Nebeneinanders verbunden. Die Oberflächen der Steinblöcke sind überwiegend glatt aus dem Fels gebrochen, teilweise stören leichte Unebenheiten. Auf jedem Stein sitzt es sich anders. Bequemes Ausruhen ist nicht vorgesehen. Es gibt keine Rückenlehnen, umso mehr ist eine eigentätige, aufrechte Haltung einzunehmen.

Die äußere Erscheinung der Steine lässt ihre Herkunft erahnen. Es handelt sich um Sandstein aus der näheren Umgebung, aus einem der Steinbrüche bei Wetter, vor etwa 290 Millionen Jahren aus Flusssedimenten entstanden, in der Erdkruste gefaltet und verdichtet, weshalb diese Gesteinsart als besonders witterungsbeständig gilt. In ihnen ruhen die Naturgewalten. Dazu wird es bei Kant nun kompliziert:

„In der Tat lässt sich ein Gefühl für das Erhabene der Natur nicht wohl denken, ohne eine Stimmung des Gemüts, die der zum Moralischen ähnlich ist, damit zu verbinden; und, obgleich die unmittelbare Lust am Schönen der Natur gleichfalls eine gewisse Liberalität der Denkungsart, d. i. Unabhängigkeit des Wohlgefallens vom bloßen Sinnengenusse, voraussetzt und kultiviert, so wird dadurch doch mehr die Freiheit im Spiele [der Einbildungskraft, Anm. d. Verf.], als unter einem gesetzlichen Geschäfte vorgestellt: welches die echte Beschaffenheit der Sittlichkeit des Menschen ist, wo die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt antun muss (…). Das Wohlgefallen am Erhabenen ist daher auch nur negativ (statt dessen das am Schönen positiv ist).“

Beide, das Schöne wie das Erhabene, bezieht Kant als Erklärung allgemeingültiger ästhetischer Beurteilung auf subjektive Gründe, auf die sinnliche Wahrnehmung einerseits, auf die Zwecke der praktischen Vernunft andererseits. Beide seien in ein- und demselben Subjekt vereinigt und zweckmäßig in Beziehung auf das moralische Gefühl.

Auch in den Pausen ist das Sommerklassenzimmer bei den Schülern sehr beliebt.

Ich möchte diesen ein weiteres, sehr altes Kriterium für ästhetische Qualität hinzufügen, und zwar den Maßstab der Angemessenheit, das Decorum, auch als Aptum bezeichnet, als das, was passt. Hierin berühren sich die klassische Rhetorik und die moderne Pädagogik. Arg verkürzt: Unter der Voraussetzung, dass Menschen angesprochen und Überzeugungen gebildet werden sollen, wird nach antiker Lehre auf dreierlei Weise qualitätvoll Wirkung erzielt, und zwar wenn mit ausgewählten Mitteln (Medien) in angenehmer Atmosphäre neue Horizonte eröffnet und die Menschen zum Handeln bewegt werden (docere-delectare-movere). Dazu müssen Menschen in ihrer jeweiligen Situation betroffen, ihr Interesse geweckt und Vertrauen hergestellt sein.

Dies kann der Steinkreis in meinen Augen leisten. Er ist als Unterrichts-Medium zur Anregung von Lernprozessen geeignet, sowohl in seiner Verwendung als materieller Alltags-Gegenstand wie auch aufgrund seiner bildsprachlich-symbolischen Form. Zu allen Zeiten und an allen Orten haben Menschen unabhängig voneinander Steinen in verschiedener Weise Bedeutung verliehen. In den Steinquadern von Bauwerken, in den Steinkreisen nordischer Richterstätten, im Kreis als Zeichen der Vollkommenheit. Gemeinsam ist allen, dass sich darin Ideen verkörpern. Sind diese im Sinne des gemeinschaftlichen Zusammenlebens als wertvoll zu erachten, werden sie von Kant „ästhetische Ideen“ oder auch „Ideale“ genannt.

Dieser Steinkreis ist zwar nach dem Prinzip des goldenen Schnitts angelegt, scheint dennoch eher unvollkommen. Es fehlen ein paar Steine, so dass der Kreis nicht ganz geschlossen ist. Das Gebilde wirkt wie eine begehbare Plastik, die ihre Vollendung – wenn auch in zeitlicher Begrenzung – erst dann erfährt, wenn Menschen sich einfinden und zu Mitgestaltern eines lebendigen Raumes werden. Im erweiterten Sinne von ‚Kunst’ wird dann nicht der Steinkreis zum Kunstwerk, es kann jedoch eine „Soziale Plastik“ im modernsten Sinne entstehen, wenn Menschen sich hierdurch innen und außen bewegen, miteinander ins Gespräch kommen und kontrovers diskutieren. Diskussionen hat es um den Steinkreis schon vielfach gegeben. Damit hat sich das Gebilde bereits jetzt als wirksam gezeigt. Das Unvollendete als das Vollendete ist ein ehrwürdiges Motiv im Rückblick auf die Kunstgeschichte und lässt sich im Sinne einer ‚permanenten Diskussion’, als ‚work in progress’, in die Zukunft weiterdenken. Arthur C. Danto, ein zeitgenössischer amerikanischer Fachmann für Ästhetik, hat zur Verleihung des Titels Meisterwerk in Anlehnung an Napoleon das Kennzeichen „stehlenswert“ empfohlen. Eine „Soziale Plastik“ kann man nicht stehlen.

Hier zeigt sich die besondere Leistung von ästhetischen Medien, von Bildern. Sie sagen mehr als Worte, lassen mehr denken als man sagen kann, wirken sofort und alles, was sie beinhalten, ist gleichzeitig präsent. Sie erfordern Geduld und Muße, damit das Allgemeine im Besonderen und das Komplizierte im scheinbar Einfachen ersichtlich wird. Weniger schön ist, dass die Steine auf grauem Asphalt und nicht auf naturwüchsigem Boden liegen. Da könnte ein Kunstrasen, wie angedacht, vielleicht einen reizvollen Kontrast erzeugen. Nicht um vorzutäuschen er sei Natur, sondern um zu verdeutlichen: Der Steinkreis verkörpert die bildende Kunst im Alltag und soll praktischen Zwecken dienen. Er ist schön, weil er in Bewegung versetzt, sogar ein wenig erhaben und angemessen.

Dr. Manuela Göhner